unser kleiner Freund, der Mauersegler; by: castel-franc.com

Zu einem richtigen Sommer gehört das Kreischen der Mauersegler. Mit dem Erscheinen dieser Zugvögel war für uns in Deutschland der Einzug des Frühlings verbunden, sie wurden stets freudig begrüßt. Hier in Südfrankreich bewundern wir ihre Flugkünste, wenn sie an warmen Sommerabenden scharenweise über unsere Terrasse jagen, um Insekten zu fangen. Nun bestand Gelegenheit, sich um die Aufzucht solch eines Gesellen zu kümmern – wenn auch unfreiwillig. Und das ist wirklich ein berührendes Erlebnis!

Gerade eben zurück aus dem Urlaub wollen wir am frühen Abend auf den Bauernmarkt schlendern, als sich unter dem Auto unseres Nachbarn Jacques ein kleiner Vogel bewegt. Er hat offenbar Schutz vor der Sommerhitze gesucht, kann (oder will) nicht mehr fliegen. Bei genauerer Betrachtung stellt sich heraus, dass es sich um einen Mauersegler handelt, der sehr erschöpft ist. Für die Dorfkatzen wäre es ein Leckerbissen, den wir ihnen aber nicht gönnen wollen. Und so wird der Findling erst einmal provisorisch im Haus untergebracht...


ein nestflüchtiger Mauersegler, Foto: Jörgen Kipp

In unserem Dorf müsste es doch eigentlich jemanden geben, der sich um solche Tiere kümmert. Meine Umfrage an der Buvette des Marktes führt jedoch zu keinem Ergebnis. Und selbst der gute Jacques (er kann sonst immer einen Rat geben) weiß nicht weiter. Außer, dass man den Vogel am besten zum Tierarzt bringen solle – was an einem Samstag Abend allerdings eher problematisch ist...

Zurück vom Markt finden wir den kleinen Kerl recht verschüchtert in seinem Behelfsheim, einer Melonenkiste. Das hingestellte Wasserschälchen hat er nicht angerührt. Soll er sich über Nacht erst einmal ausruhen – und wir überlegen uns einen Namen für ihn.

„Kerlchen“ erscheint recht passend. Die Frage, wie ihm zu helfen sei, bleibt vorerst offen...

Der Sonntagmorgen begann also mit einer umfangreichen Internet-Recherche. Kaum zu fassen, wie viele Mauersegler-Hilfestellen es dort gibt. Einige ihrer Tipps können uns zwar weiterhelfen:

Ein kuscheliges Heim sei wichtig. Eine Unterkunft, in die sich der Mauersegler zurückziehen kann, mit griffiger Unterlage. DAS sollte zu machen sein, also:


Kerlchen, unser Mauersegler, in seinem neuen Häuschen; Foto: Jörgen Kipp

Geeignetes Futter? Mauersegler fressen nur Insekten, davon jedoch reichlich. Sichtbare Verletzungen? „Kerlchen“ kann die Zehen seines rechten Fußes nicht öffnen, scheint sonst aber unverletzt. Altersbestimmung? Etwas über 30 Tage – nach dem, was entsprechende Fotos erkennen lassen. Gewicht? Um die 40 Gramm sollten es sein! Unsere Küchenwaage zeigt gerade einmal 28 für ihn an.

Das insoweit wichtigste Thema, Aufzucht und Fütterung, wird leider als recht schwierig beschrieben...

Der erste Versuch (alle Spinnen, die im Haus zu finden sind, werden eingefangen) scheitert kläglich. Der kleine Pflegling macht seinen Schnabel partout nicht auf. Immerhin nimmt er ein paar Tropfen Wasser aus einer Pipette an, wenn auch wenig. So vergeht der Sonntag.


Erste Fütterungsversuche unseres Mauerseglers, Foto: Anne Rieck

Am Montag also doch zur Tierärztin – und ein kleiner Schreck angesichts der ausgehängten Gebührentafel. „Consultation 38,50 EUR“! Jede weitergehende Maßnahme kostet extra. Eine Vorbesprechung mit der Sprechstundenhilfe ergibt, dass man den jungen Vogel keinesfalls dort behalten wird („c’est l’animal de la saison“). Wenn er den Schnabel nicht aufmache, sei es erforderlich, ihn leicht am Kehlsack zu ziehen – der Versuch einer Vorführung an Ort und Stelle mißlingt ihr. Immerhin gibt sie mir die Telefonnummer einer Hilfsorganisation für Tiere in Not mit auf den Heimweg.

Viele Anrufversuche und ewige "besetzt"-Zeichen, bis sich dort endlich jemand meldet. Ja, der Vogel könne bei der "L.P.O." abgegeben werden (in Buoux, was allerdings 50 Kilometer entfernt von unserem Wohnort liegt). Nein, es gebe es keine nähere Auffangstelle. Was also tun?

Als Futter, so wird noch mitgeteilt, seien „Grillon“ (Heimchen) am besten geeignet. Außerdem, jedoch nur als Dessert, einige „Teignes“ (vulgo: „Honigmaden“; die Raupen eines Falters, der seine Eier in Bienenstöcken ablegt). Zum Füttern müsse man den Vogel fixieren und seinen Schnabel vorsichtig mit einem Finger öffnen; im Internet seien auch Filme darüber zu finden.

Was es nicht alles gibt im Internet – und tatsächlich werde ich fündig. Mit einem Video über die „Fress-Konditionierung von Mauerseglern“:

Sooo schwierig sieht das gar nicht aus (by the way: den "NABUisten", von denen das Video stammt, herzlichen Dank).

Einen Versuch, Kerlchen selbst aufzupäppeln, sollte es wert sein!

Ab in den Laden für Anglerbedarf (dort kann man Honigmaden kaufen, welche ich schon als Forellenköder kenne). Anschließend in eine Fachhandlung für Reptilien, wo neben Heimchen (als Lebendfutter) auch Vitaminpräparate zu haben sind.

Die ersten Fütterungsversuche sind wirklich mühsam, „Kerlchen“ sträubt sich erheblich. Honigmaden scheinen ihm besser zu schmecken als Heimchen, vielleicht liegt es an der Konsistenz. Aber in erster Linie sollen ja Heimchen verfüttert werden – und zwar 6 mal täglich...

Tatsächlich funktioniert es einfacher, wenn der kleine Rabauke zur Fütterung vorsichtig in ein Tuch gewickelt wird. Er sieht dann zwar etwas aus wie eine Mumie, kommt damit aber besser zurecht. (Ich im Übrigen auch)...

Und nach zwei Tagen verändert sich sein Verhalten plötzlich:

Nähert sich meine Hand dem Schnabel, macht er diesen weit auf , schnappt nach dem Zeigefinger und saugt ihn regelrecht ein. Daran entlang lässt sich nun relativ einfach ein Futterstück im Schnabel versenken; klappt nicht immer, aber meistens. Der Hunger ist immens, der Kleine hat immerhin 3 Gramm an Gewicht zugelegt.

Er fängt jetzt an, in seiner Unterkunft herum zu laufen, kann mit dem lädierten Fuß aber nicht greifen. Meine Idee, dessen Zehen vorsichtig mit einer Pinzette zu spreizen, lässt sich Kerlchen erstaunlich willig gefallen. Außerdem ist er so bei den Fütterungen etwas fixiert, was die Prozedur noch einfacher macht.


Mauersegler und Kinesitherapie, Foto: Jörgen Kipp

Am Freitag bringt er 35 Gramm auf die Waage. Noch zu wenig für seine Größe, aber immerhin. Inzwischen funktioniert das Füttern weitgehend unangestrengt, Kerlchen ist sogar recht zutraulich geworden. Auf einem schräg gespannten Badetuch als  Kletterwand (auch ein Tipp aus dem Internet) hangelt er, noch humpelnd, herum.

Samstag früh finden wir seine Unterkunft allerdings leer vor. Unser Hausgast ist ausgebrochen, wird versehentlich fast zertreten. Offensichtlich will er will sich unbedingt bewegen, kommt auf dem glatten Boden aber kaum voran.


Mauerseglers Gehversuche, Foto: Jörgen Kipp

Draußen, auf der Terrasse funktioniert es besser. Der Naturstein bietet seinen Krallen mehr Halt, Kerlchen geht richtig auf Wanderschaft. Interessiert sieht er zu seinen am Himmel kreischenden Kumpanen auf.


Eine Schar von Mauerseglern im Flug, Foto: Keta (eigenes Werk) by wikimedia commons, Lizenz: CC BY-SA 2.5

Sogar der vorsichtige Versuch, ihn an einer Mauer abzusetzen, gelingt. Halbwegs.

Auf der flachen Hand gehalten, um seine Flügel auszuprobieren, stellt sich unser Vogel noch ungeschickt an. Dieses Spiel behagt im nicht. In seine Bleibe will er jetzt (erstmals) nicht zurück – irgendwie macht sich ein sehr großer Freiheitsdrang bemerkbar. Faszinierend, dieser Wille zum Aufbruch!

Nachmittags sind wir zu Freunden eingeladen, die am Ortsrand ein großes Grundstück besitzen. Annes Idee, den kleinen Kerl dort fliegen zu lassen, erscheint mir etwas abwegig. Zu unbeholfen wirkt er, und eigentlich ist er noch zu leicht.

Weil Kerlchen häufig gefüttert werden muss, bleibt uns keine andere Wahl, als ihn mitzunehmen. Und die am Haus der Freunde vorhandene Wiese wäre jedenfalls gut geeignet, um ihn ohne Verletzungsgefahr flattern zu lassen.

Bis zur Fütterung vor Ort vergeht einige Zeit, Kerlchen müsste riesigen Appetit haben. Als ich ihn deshalb aus seiner Box nehme, mag er aber nichts. Vielleicht ist es die ungewohnte Umgebung? Ruud, unser holländischer Freund, zeigt sich sehr fasziniert von dem Vogel, der kurz auf seiner Hand spaziert. Eilig – mit allerdings noch unbeholfenen Flügelschlägen – hüpft er von dort auf Boden. Sein immenser Freiheitsdrang ist nun überdeutlich zu spüren. Aber es hilft nichts, erst müssen ein paar Heimchen vertilgt werden.

Denke ich. Doch jemand sieht das ganz anders.

Kerlchen nimmt, nun auf einen Tisch bugsiert, kein Futter an, sondern befreit sich unwillig und energisch aus seinem Tuch. Er hüpft auch mir von der Hand, diesmal in anderer Richtung. Nach einigen Metern berührt unser Vogel, immer noch etwas tollpatschig mit seinen Flügeln schlagend, den Boden. Doch dann, von einer Sekunde zur anderen, geraten seine Schwingen richtig in Bewegung; wie ein plötzlich startender Motor. Zwei, drei kräftige Flügelschläge – und unser Freund erhebt sich agil in den Himmel, getragen von einer leichten Brise. Bereits nach wenigen Sekunden ist er hinter einer Baumreihe aus dem Blickfeld verschwunden.

Dieser Augenblick ist etwas traurig, gleichzeitig aber wunderbar. Unser Mauersegler befindet sich endlich wieder dort, wo er hingehört: in Freiheit.

Adieu, kleiner Freund, mach es gut!

Und das wird so sein. Denn kurz darauf taucht, wie aus dem Nichts, ein großer Schwarm seiner Artgenossen am Himmel auf – gerade so, als seien sie gekommen, um unser Kerlchen abholen...


Kommentare

ach wie herzerweichend schön - Gute Reise kleines Kerlchen....

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